24. Februar 1913 – 17. Juni 2006
Im November 2006 gedachte die Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen der im Juni verstorbenen Lotte Gelb. Sie wurde 93 Jahre alt.
Lotte Gelb, genannt Lotte, wuchs, zusammen mit zwei Schwestern, in äußerst großer Armut auf – in einer kleinen, feuchten Zimmer-Kabinett-Wohnung, die bei allen Familienmitgliedern gesundheitliche Schäden verursachte; der Vater meist arbeitslos, die Mutter mit der Besorgung der allernotwendigsten Lebensmittel beschäftigt. Wie schwierig die finanzielle Situation der Familie Stieg war, zeigte sich auch daran, dass Lotte im Auftrag ihrer Mutter immer wieder einige der wenigen Habseligkeiten zum Versatzamt bringen musste: „Da war ich noch ein Kind, da hat mich die Mutter geschickt: ‚Schau, dass du das anbringst!‘ Und da bin ich eben gegangen.“
Lotte Gelb absolvierte nach der Grundschule eine kaufmännische Lehre, arbeitete dann als Manipulantin, aber auch als Hilfskraft in einer Fabrik für Hosenträger-Erzeugung. Zudem half sie ihrer Schwester im Haushalt, bei der sie wohnte, nachdem diese 1939 einen Sohn zur Welt gebracht hatte. Da der Vater dieses Kindes Jude war, übernahm ein anderer Mann formal die Vaterschaft, verlangte dafür aber sexuelle Gegenleistungen von der Kindsmutter – diese starb an den Folgen einer versuchten Abtreibung.
Daraufhin kümmerte sich Lotte Gelb um ihren Neffen Peter, später versteckte sie auch dessen leiblichen Vater. Der versteckte Kindesvater blieb den übrigen HausbewohnerInnen jedoch nicht lange verborgen. Wie viele andere auch, wurde Lotte Gelb von der Hausmeisterin denunziert. „Ich habe im 5. Bezirk in der Spengergasse gewohnt und eine Dame, die Hausbesorgerin, sie hat wohl gesehen, dass jemand zu mir kommt. Aber sie hätte mich auch fragen können: ‚Sie, wer ist denn das?‘ Nein, sie hat eine Anzeige gemacht und da ist er dann ins KZ gekommen und drei Monate später ich.“ Nach etwa drei Monaten im Polizeigefängnis Roßauer Lände wurde sie 1943 über Brünn und Mährisch Ostrau ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Während ihrer sechsmonatigen Haft musste Lotte Gelb zunächst in der Schreibstube, wo sie Kopien der Zugangslisten anfertigte, und dann bei der Firma Siemens & Halske, welche direkt neben dem KZ Ravensbrück eine Produktionsstätte errichtet hatte, arbeiten. Auf den Zugangslisten war auch der Haftgrund vermerkt und Lotte Gelb konnte es nicht fassen, weswegen Menschen eingesperrt wurden: „Aber man soll es nicht glauben, weswegen Leute überhaupt eingesperrt werden. Schau – auch bei mir – wegen nichts und wieder nichts. Ich mein von meiner Sicht aus. Weil so richtig politisch betätigt habe ich mich ja dazumal nicht.“
Am 28. November 1943 wurde Lotte Gelb entlassen und kehrte nach Wien zurück, wo sie auch wieder das Sorgerecht für Peter erhielt. Als im Mai 1945 Peters Vater ebenfalls aus der KZ-Haft zurückkehrte, heiratete Lotte Gelb ihn, um dem Kind, das ohnehin sehr unter den antisemitischen Äußerungen und Hänseleien der SchulkollegInnen litt, welche auch nach 1945 nicht aufhörten, das Leben zu erleichtern. Sie machte keinen Hehl daraus, dass es sich hierbei um eine Vernunftehe gehandelt hatte.
Das Haushaltseinkommen besserte Lotte Gelb mit der Produktion von Puppen, gehäkelt und gestrickt, auf – wie sie dies bereits schon vor der Haft getan hatte. Mit diesen Puppen erfreute sie auch die Kameradinnen der Lagergemeinschaft Ravensbrück, zu deren monatlichen Treffen sie regelmäßig kam. Die Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück war Lotte Gelb von Beginn an Zufluchtsstätte, in der sie – im Gegensatz zu ihrem sonstigen Umfeld – Gehör und Verständnis für ihr Schicksal fand. In den letzten Jahren konnte sie jedoch aus gesundheitlichen Gründen an den monatlichen Treffen nicht mehr teilnehmen.
Obwohl sich Lotte Gelb immer wieder fragte, warum das alles geschehen musste, war sie nicht verbittert. Ihre Bescheidenheit und Zufriedenheit kamen auch darin zum Ausdruck, dass sie ihr Leben häufig mit jenem anderer Menschen verglich, die es noch schlechter als sie hatten. Es gehörte auch zu den Wesenszügen dieser zarten und zierlichen Frau, aus den schrecklichen Erfahrungen noch etwas Positives abzugewinnen: „Aber wenn man schon schlechte Zeiten mitgemacht hat, dann erlebt man die guten wirklich. Man fühlt das anders, ganz anders, wenn es einem einmal ein bisschen besser geht. Das sieht man wie einen Lottotreffer.“
Die Zitate entstammen lebensgeschichtlichen Interviews aus dem Jahr 1998, vgl. dazu: Helga Amesberger/Brigitte Halbmayer: „Vom Leben und Überlebenden – Wege nach Ravensbrück. Das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung.“ 2 Bände, Wien 2001
Das Interview mit Lotte Gelb, geführt von Helga Amesberger, ist Bestandteil des VideoArchivs Ravensbrück.