9. Februar 1911 – 14. Februar 2002
Lieselotte Haiss, genannt Lilo, wurde am 9. Februar 1911 in Kassel/Deutschland geboren. Ihr Vater, ein Volksschullehrer, war verwitwet und brachte vier Kinder in die zweite Ehe mit. Als Lilo Haiss zur Welt kam, war er bereits 50 Jahre alt und starb, als Lilo acht Jahre alt wurde. Die Mutter war bei ihrer Geburt 35 Jahre alt. Die Halbgeschwister waren bis auf eine Schwester, die 19 Jahre älter war als Lilo, alle schon aus dem Haus – und so wurden die Mutter und die unverheiratete Halbschwester zu den wichtigsten Bezugspersonen in Lilos Jugend: „Meine Mutter war vom Land und war sehr christlich, aber sehr sozial eingestellt. Und sehr fleißig und sehr gutmütig und liebevoll. (…) Und meine Schwester war eine unverheiratete Lehrerin und sehr modern eingestellt, auch in ihrem Denken. Meine Schwester war ausgesprochen antikirchlich. Also es waren sehr verschiedene Menschen und sehr wertvolle, charakterlich wertvolle Menschen. Und die haben mich beide beeinflusst.“ Niemand aus der Familie gehörte einer Partei an, aber, so Lilo Haiss: „Unser Herz war links und unser Hirn war links.“
„Hochverrat“. Lilo Haiss besuchte eine französischsprachige Schule und hätte gern Naturwissenschaften studiert, doch die Rente der Mutter war zu gering dafür. Daher schrieb sie sich in Kassel in die Pädagogische Akademie ein. Schon in ihrem Maturajahr 1930 habe sich, so Lilo Haiss, in Deutschland die politische Entwicklung abgezeichnet. Die Nationalsozialisten hatten bereits großen Zulauf. Die Lehrer an der Akademie hielten sich politisch zurück, doch unter den Studierenden gab es SozialistInnen, KommunistInnen und Bürgerlich-Konservative, und auch einige Nazis waren bereits darunter. Die Gleichaltrigen rund um Lilo Haiss begannen schon vor der Machtergreifung Hitlers 1933, gegen den Nationalsozialismus anzureden und anzuschreiben. Lilo Haiss wirkte als Kurierin mit, sie transportierte Flugzettel und Informationsmaterial zwischen den einzelnen Gruppen. Auch als Volksschullehrerin am Land setzte sie ihre politische Tätigkeit ganz offen fort und wurde deswegen auch schon gewarnt: „Da war ich in einem Dorf Lehrerin und habe bei einem Bauern gewohnt, der war recht intelligent, der hat gesagt: ‚Warten Sie nur, warten Sie nur, es wird nicht lange dauern, dann werden die Nazis Sie schnappen, Sie müssen sich mehr zurückhalten.’“ Einige FreundInnen und MitstreiterInnen wurden ab 1933 bald verhaftet, und im Sommer 1936 kam die Gestapo in ein kleines Dorf, das Lilo Haiss mit ihren Volksschulkindern bei einem Schulausflug besuchte. Sie wurde verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis Kassel gesperrt. Am 2. März 1937 wurde sie wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.
KZ-Haft. Nachdem sie die Strafe im Frauengefängnis Frankfurt/Main verbüßt hatte, wurde sie ins Frauen-KZ Lichtenburg deportiert, wo sie sich mit einer Burgenländerin anfreundete, die über Jahrzehnte, aber vor allem in den kommenden KZ-Jahren, Vorbild für sie sein sollte: Hanna Sturm.
Als die Frauen im Frühjahr 1939 nach Ravensbrück kamen, standen dort erst wenige Baracken, in denen militärisch strenge Ordnung herrschen musste. Lilo Haiss wurde zur Arbeit in der Effektenkammer eingeteilt, wo es zumindest warm und trocken und die Arbeit körperlich nicht sehr anstrengend war. Anfangs gab es in den Baracken noch Öfen, doch damit war es bald vorbei. Lilo Haiss erinnerte sich an einen Winter mit 36 Grad Kälte, sodass die Decken mit Rauhreif und Eiszapfen bedeckt waren. Auch das Essen verschlechterte sich innerhalb nur eines Jahres sehr.
Lilo Haiss freundete sich mit einer weiteren Österreicherin an: Steffi Kunke, einer Lehrerin aus Wien. Im KZ Lichtenburg lasen die beiden gemeinsam französische Bücher, im KZ Ravensbrück rezitierten sie sonntags beim Spaziergang auf der Lagerstraße Gedichte, von denen viele Steffi Kunke selbst geschrieben hatte. Steffi Kunke wurde 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie an Typhus erkrankte und starb.
Entlassung aus dem KZ. Im Jänner 1940 wurde Lilo Haiss eines Tages in die Kommandantur gerufen, wo ihr der Lagerkommandant Koegel mitteilte, sie werde „probeweise“ entlassen. Sie kehrte nach Kassel zurück, wo sie sich anfangs täglich bei der Polizei melden musste. Daher konnte sie nur sehr sporadisch Kontakt zu ihren ehemaligen GefährtInnen aufnehmen, viele von ihnen waren zudem selbst inhaftiert oder ins Ausland geflohen. Da sie als Volksschullehrerin Berufsverbot hatte, lernte sie Schreibmaschine schreiben und Stenographie und suchte sich eine Büroarbeit. Ein Jahr nach ihrer Entlassung fuhr Lilo Haiss nach Österreich auf Urlaub. In Wien besuchte sie die Tante von Steffi Kunke. Diese brachte sie auf die Idee, eine Bergtour in Osttirol zu machen. Auf einer Hütte in den Bergen traf Lilo Haiss einen jungen Mann aus Wien, den sie 1943 heiratete – allerdings in seiner Abwesenheit, denn er war Wehrmachtssoldat und in Litauen stationiert. Im selben Jahr bekam sie einen Sohn, der seinen Vater erst im Spätsommer 1945 kennenlernte, als dieser aus dem Krieg heimkam. Bis dahin hatte Lilo Haiss bei den Schwiegereltern in sehr beengten und ärmlichen Verhältnissen in Wien gelebt, und auch die ersten Nachkriegsjahre waren von Entbehrungen geprägt, aber, so Lilo Haiss, „wenn man am Leben bleibt und der Mann zurückgekommen ist, dann ist das andere alles unwichtig.“
Nach der Befreiung. Lilo Haiss nahm nach dem Ende der Nazi-Herrschaft mit Begeisterung ihren alten Beruf als Volksschullehrerin wieder auf. Bei der Postenvergabe wurden vom Wiener Stadtschulrat zwar die ehemaligen NationalsozialistInnen bevorzugt, dank einer Intervention von Rosa Jochmann bekam sie aber eine Stelle in einer Volksschule in Döbling. Mit 60 Jahren, also 1971, ging sie als Schulleiterin in Pension. Ihr Ehemann starb 1984.
Als sich 1947 die Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück gründete, war Lilo Haiss von Beginn an mit dabei: „Weil ich mich gefreut habe, Kameradinnen wieder zu treffen, und Leute, die denken wie ich. Da hat man sich zu Hause gefühlt. (…) Das ist eine ganz innige Verbindung, also das ist oft mehr als wie unter Schwestern. Und das Lager hat einem ja gezeigt, dass man nur existieren kann, wenn man zusammenhält. Das ist die einzige Möglichkeit, dass man sich so weit wie möglich gegenseitig hilft.“
Die Erinnerungen an Verfolgung und KZ-Haft waren immer präsent; und Lilo Haiss war sehr aufmerksam gegenüber Entwicklungen, die ihr gefährlich schienen. Sie beklagte vor allem oft die größer werdende Kluft zwischen Armen und Reichen.
Am Ende ihres Lebens wohnte Lilo Haiss in einem Pensionistenheim in Wien-Döbling. Mit ihrem Sohn, den beiden Enkelkindern und dem Urenkel stand sie in regem Kontakt. Und solange es ihr möglich war, nahm sie an den monatlichen Treffen der Lagergemeinschaft Ravensbrück teil. Am 14. Februar 2002 ist Lilo Haiss nun gestorben.
Brigitte Halbmayr
Gekürzte Fassung des Buchbeitrags: „Wir waren in keiner Partei, aber unser Herz war links und unser Hirn war links.“ Lieselotte Haiss; in: Amesberger, Helga/Halbmayr, Brigitte: Vom Leben und Überleben – Wege nach Ravensbrück. Band 2 – Lebensgeschichten. Wien 2001