3. Mai 1924 – 15. August 2012
Im Dezember 1998 hatten Gerda Klingenböck und ich uns den Weg durch das winterliche Kärnten zum Wohnort von Helene Igerc gesucht: einem Bauernhof am Hang der Petzen, Nähe Bad Bleiburg. Die Wohnräume waren beengt, sodass wir uns mit unseren Geräten in der Küche breit machten: zwei Lichtquellen, eine Kamera, ein Lichtspiegel, jede Menge Kabel etc. Mit dem Aufnahmegerät zwischen uns nahmen Helene Igerc und ich am Küchentisch Platz – und schon tauchte Frau Igerc in ihre Geschichte ein, die sie in einem von der slowenischen Muttersprache gefärbten bilderreichen Stil erzählte.
Als Helene Polanc wurde sie am 3. Mai 1924 auf einem Bergbauernhof in der Nähe von Eisenkappel geboren. Ihre Eltern waren Kärntner SlowenInnen, wie fast alle Bauern damals in dieser Gegend südlich der Drau. 1937 pachteten Helenes Mutter und ihr Stiefvater einen Bergbauernhof in Sittersdorf. Helene musste als ältestes von sieben Kindern ihrer Mutter viel am Hof helfen, denn der Stiefvater war Holzarbeiter beim Grafen Rosenberg, damit die Familie eine ausreichende Existenzgrundlage hatte. Dennoch waren die Lebensumstände hart. Neben der Arbeit war die Religion selbstverständlicher Teil des alltäglichen Familienlebens.
Im März 1938 änderte sich das Leben radikal. Der Schulunterricht wurde ab nun auf Deutsch gehalten, die slowenische Sprache war verpönt. Bereits 1940 musste Helenes Vater zur Wehrmacht, die Mutter alleine mit den Kindern den Bergbauernhof bewirtschaften. Im Herbst 1942 begannen die „Besuche“ der „Partisanen“, und damit zog die Angst ins Haus: Es war schwer zu beurteilen, ob tatsächlich PartisanInnen oder von der Gestapo geschickte Männer und Frauen den Hof heimsuchten. Die tatsächlichen PartisanInnen verraten wollte man nicht, aber deren Nichtmeldung wurde als „staatsfeindliche Haltung“ ausgelegt. So ging es bis zum Sommer 1944: Am 18. August wurden die zwei ältesten Kinder, Helene und ihre Schwester Maria im Alter von 20 und 18 Jahren, vom Weizenfeld weg verhaftet. Was folgte war eine gute Woche Gestapo-Gefängnis in Klagenfurt, Verhöre inklusive. Ohne Verhandlung und Urteil kamen die Schwestern auf Transport über Prag nach Ravensbrück.
Gut drei Wochen verbrachten die beiden Schwestern in Ravensbrück. Angst war das beherrschende Gefühl und der Kontakt zu anderen Häftlingen äußerst eingeschränkt. Helene musste in der Nähe von Ravensbrück Bäume fällen, Schützengräben ausheben, Sand schaufeln und wegtransportieren. Danach kamen Helene Igerc und ihre Schwester auf Transport ins KZ Wandsbek, einem Nebenlager des KZ Neuengamme, wo sie in einer Fabrik Gasmasken herstellen mussten und auch für „Sauerstoff-Versuche“ missbraucht wurden. Mehrmals war Helene Igerc knapp dem Tod entronnen, bevor die SS die Frauen am 1. Mai 1945 aus dem KZ Wandsbek ins Lager Eidelstedt trieb, in ein völlig verwahrlostes und verschmutztes Lager, voll von Kranken und Toten. Das Chaos und die Nervosität des Wachpersonals kündeten vom bevorstehenden Ende: Wenige Tage später befreite die britische Armee die Frauen.
Mit einem Transport Richtung Jugoslawien gelangten die beiden Schwestern zurück nach Österreich. Die Wiedersehensfreude mit der Familie war grenzenlos – am 8. September 1945 waren alle Mitglieder wieder versammelt, alle nächsten Angehörigen hatten überlebt. Dennoch: Das Leben blieb weiterhin hart. Auf der Gemeinde arbeitete dasselbe Personal wie während des NS-Regimes, die Familie musste sich die Unterstützung mit Lebensmitteln und Saatgut regelrecht erkämpfen. Zur allgemeinen Armut kamen die Folgen der „Aussiedelungen“ und die Trauer um verstorbene bzw. ermordete Verwandte. Auch am Hof von Helene Igerc‘ zukünftigem Ehemann waren alle ausgesiedelt. 1949, im Jahr ihrer Hochzeit, belief sich der Viehbestand am Hof auf zwei Kühe, einen Ochsen und ein Kalb.
Helene Igerc hat neun Kindern das Leben geschenkt, war vielfache Großmutter und auch Urgroßmutter. Ihr Mann, mit dem sie sich gut verstanden hatte, war 1990 im 72. Lebensjahr verstorben. Bis wenige Wochen vor ihrem Tod half sie am Hof mit, den ein Sohn mit seiner Familie weiter bewirtschaftet, so gut es ihre schwindenden Kräfte und zunehmenden Altersleiden noch erlaubten. Am 15. August 2012 ist sie im 88. Lebensjahr verstorben.
Helene Igerc blieb bis zum Schluss eine politisch denkende Frau, die kritisch die Nachkriegsjahrzehnte reflektierte, v.a. auch den Umgang mit der slowenischen Volksgruppe in Kärnten.
Früher, so meinte sie damals im Interview, wollte niemand was hören, nur in der Familie und im engsten Freundeskreis wurde manchmal über die KZ-Erlebnisse gesprochen. Manche Leute hätten gesagt: „Nur der Graffel kommt heim und die Besten sind dort geblieben.“ Die SlowenInnen galten lange Zeit noch als „Untermenschen“ und wurden als „Titopartisanen“ und „Banditen“ beschimpft. „Mehrere Jahre hindurch war irgendwie noch so ein diktatorisches Leben. Es war noch keine wirkliche Freiheit, so wie heute. Du hast auch den Menschen nicht können vertrauen.“ Viele hätten sich aus Angst vor Benachteiligung nicht mehr getraut, sich zum SlowenInnentum und zur slowenischen Sprache zu bekennen. Erst jetzt erkenne man schön langsam den Wert der Zweisprachigkeit. Helene Igerc selbst ist und bleibt Kärntner Slowenin: „Slowenisch, schöne Lieder, Lesen und die ganze Lebensweise – das habe ich alles von meinem Geburtshaus mitgenommen. Und das ist mir so in die Seele hineingewachsen, dass ich nie was anderes gewesen bin. Und dass ich Slowenin bin, da kann ich auch nicht helfen. Meine Eltern waren nur das, genauso, wie ein Deutscher ein Deutscher ist.“
Helene Igerc sprach einige Male auch als Zeitzeugin über ihre Verfolgungserlebnisse und ihre politische Haltung. Wir sind froh, dass ihre Erinnerungen im Film „Vom Leben und Überleben – Wege nach Ravensbrück“ für viele Interessierte zugänglich sind. Ein ausführlicheres Porträt ist im gleichnamigen Buch (von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr, Wien 2001) nachzulesen. Mit einigen ihrer Kinder und Schwiegerkinder stehen wir, die Lagergemeinschaft, in gutem Kontakt, nicht zuletzt verbinden uns gemeinsame Gedenkfahrten nach Ravensbrück. Helene wird uns als herzliche Frau und kämpferische Mahnerin für die Rechte von Minderheiten und eine gerechtere Welt in Erinnerung bleiben.
Brigitte Halbmayr
Zwei lebensgeschichtlichen Interviews mit Helene Igerc, geführt von Brigitte Halbmayr (Kamera: Gerda Klingenböck), sind Bestandteil des VideoArchivs Ravensbrück.
Helene Igerc ist auch eine der Protagonistinnen in den Filmen Wer wird mir helfen? Kärntner Sloweninnen erzählen (2000) und Vom Leben und Überleben (2003) von Bernadette Dewald und Gerda Klingenböck.